Alfred Nemeczek

Schuss auf dem Acker des Schönen

Mein Treffen mit dem freien Maler Victor Kraus nach 24 Jahren – Bericht einer Werkspionage

 

Der Name Victor Kraus, vor 24 Jahren zum ersten Mal gehört und seither nicht vergessen, verband sich für mich lange mit einem einzigen Bild. Mit diesem Großformat hatte sich der in München lebende Künstler, damals 29, am Wettbewerb „Deutsche Landschaft - heute“ des Kunstmagazins „art“ beteiligt und einen dritten Preis gewonnen.

 

Beim ersten Besehen wirkte diese Malerei auf mich abstrakt: Kraftvolle, breite, von malerischem Ungestüm zum wüsten Muster verwobene schwarze Pinselzüge in ihrer dynamischen Passage durch einen weißlichen Bildgrund erinnerten kurz an den amerikanischen abstrakten Expressionisten Franz Kline, weckten aber bald schon Assoziationen an einen schneebedeckten, von Gleisen und Wagenradspuren durchfurchten Acker, der ein Schlachtfeld gewesen sein könnte. Ganz im Sinne des Künstlers, der seinem Gemälde „Ohne Titel“ einen Kommentar hinzugefügt hatte, der dem Betrachter – und den Juroren des Wettbewerbs – auf die Sprünge helfen sollte. Er stand in Klammern und las sich so: „(pflügen – zeichnen – schießen)“.  

 

Drei hilfreiche Verben, von denen ich seinerzeit nicht ahnen konnte, dass sie konstituierend sein könnten für die künstlerische Strategie des Malers Kraus. Damals, im Frühjahr 1984, zählte ja für mich vor allem „Deutsche Landschaft – heute“. Die Arbeit an diesem Projekt, zu dem auch eine große Ausstellung mit Werken ausgewählter Teilnehmer in der Orangerie des Berliner Schlosses Charlottenburg gehörte, steckte uns „art“-Redakteuren noch lange nach Abschluss des Wettbewerbs in den Knochen. Denn im redlichen Bemühen um äußerste Fairness hatten wir der siebenköpfigen Jury die Bilder nicht, wie es später üblich wurde, in Reproduktionen, sondern im Original präsentieren wollen und zu diesem Zweck eine so kostspielige wie aufwändige Logistik entfesselt.

 

Von Sammelstellen in sechs Großstädten der alten Bundesrepublik bewegte eine Kunstspedition alle 1354 eingereichten Werke nach Hannover, wo die Preisrichter fast eine Woche mit deren Sichtung zubrachten. Um sodann die Riesenmenge von mehr als tausend abgelehnten Bildern auf den traurigen Rückweg zu ihren, naturgemäß enttäuschten, Einsendern zu expedieren. Einige der Künstler verweigerten prompt die Annahme. Was „art“ so gut gemeint hatte, erwies sich zumindest teilweise als kontraproduktiv.

 

Ganz andere, nämlich durchweg positive Erfahrungen mit dem Projekt machte der Preisträger Victor Kraus. Sein Gemälde reiste stracks nach Berlin, und der Gewinner durfte ihm auf „art“-Kosten folgen: einmal zum Fototermin und dann nochmals zur Vernissage, wo ihn das Team von „Titel, Thesen, Temperamente“ zum TV-Interview empfing und die „Paris Bar“ ihn an den Prominententisch bat. Bis heute findet Kraus es „toll, als junger Hupfer so eine Einladung gekriegt zu haben“. Doch preist er nun, im Zenit seiner Karriere, weniger die schönen Tage im Scheinwerferlicht als die Tatsache, dass bei der „art“-Schau ausgerechnet ein Bild Erfolg hatte, mit dem er kurz vor Abschluss seines Studiums an der Münchner Akademie einen neuen Anfang riskiert hatte.

 

Zwar war Landschaft lange sein Thema gewesen, doch hatte Kraus es, wie der Kritiker Christoph Blase im Katalog der „art“-Ausstellung schrieb, „in sanfter, realistischer Manier bewältigt wie aus der Perspektive eines tief fliegenden Flugzeuges, das über Äcker und Felder gleitet“. Bei einem Workshop mit fünf Künstlerkollegen auf einem oberbayerischen Bauernhof, in nur zweieinhalb Wochen, riskierte Kraus dann den Bruch: „Die Striche werden heftig“, schreibt Blase, „die Formate bedeutend größer, der Ausdruck impulsiver.“

 

Kraus sah sich Anfang der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts laut „art“, als „Vertreter der neuen, aber nicht der wilden Malerei“ und galt auf der Münchner Szene als „Geheimtip“ (Blase), der seinen Erfolg im „art“-Wettbewerb durchaus hätte entbehren können, ohne in Nichtbeachtung zu verkümmern. Denn die schönsten Ausstellungen und Ankäufe, Förderpreise und Postgraduierten-Stipendien der öffentlichen Hand flogen ihm in jenen Jahren nur so zu. Auch „art“ ließ den Kontakt nicht abreißen. Schon in der ersten Lieferung des „art-Lexikons zeitgenössischer Künstler“ war Kraus ein vom „art“-Redakteur Gunder Clauß verfasstes Datenblatt mit Kurzbiografie und Werkprobe gewidmet. 1987 folgte eine Vorschau auf seine Schau im Sprengel Museum Hannover – und auch mein Text zur dieser Ausstellung in Ahlen und Rosenheim geht unter anderem auf die von Clauß gepflegte Verbindung zurück. Er liebte die Kunst von Victor Kraus und hielt mich jahrelang auf dem Laufenden; im März 2007 ist Gunder Clauß mit 58 Jahren gestorben.

 

Bevor ich Victor Kraus, dem ich nur einmal persönlich begegnet war, Anfang Juni im Altmühltal zum Reden und Bilderbetrachten besuchte, studierte ich seine Kataloge. Vor allem Anderen – das sei zugegeben – interessierte er mich als Fall. Dass ich einem im Umgang mit Farbe, Technik und Sujet virtuos erfahrenen Profi seines Metiers begegnen würde, schien mir garantiert und weckte in mir eher Vorfreude als Bedarf an kritischer Nachfrage. Doch wie Kraus sich seit einem Vierteljahrhundert als freier (das heißt von seiner Kunst existierender) Maler auf einer nach dem Genre Malerei nicht eben lechzenden Kunstszene hatte behaupten können, ohne zu verhungern oder sich zu verbiegen – das wollte ich doch wissen.

 

Pop Art war passé, als Kraus 1977 zum Studium antrat. Die „wilde“ Malerei à la Mülheimer Freiheit wurde so wenig sein Ding wie die raumgreifende Installation (die er dank einer Gunst der Stunde nur einmal und zwar grandios praktizierte). Und Malerei allein unter formalen Auspizien zu betreiben, widerprach seiner Intention. Die lief weniger auf l’art pour l’art hinaus als auf Kommunikation. Auf Kunst, die nicht um ihrer selbst willen da ist, sondern etwas bewirkt. Die bei einem Publikum, das mindestens so intelligent ist wie der Maler, etwas auslöst. Nichts Ideologisches, aber doch etwas Psychisches, Existenzielles, Humanes. Jedenfalls etwas Wichtiges, was nur von einem spontan gemalten, collagierten, montierten oder sonstwie mit Bedeutung aufgeladenen Bildgeviert ausgehen konnte.

 

Dass ihm ein Konzept dafür nicht über Nacht in den Schoß fiel, war klar. Doch das Probieren, die unbändige Lust am Lernen beim Tun, war glücklicherweise ein Grundbaustein seiner künstlerischen Begabung und wurde früh durch Überzeugungen kanalisiert, die Kraus beim Studium der klassischen Moderne empfangen hatte: Gegenstand? Ja! Aber keine Natur-Nachahmung, keine Anekdoten, kein Illusionismus, sondern flächige Komposition im Sinne eines Paul Cézanne, der das Bild als „Wand“ definiert hatte. Nach Meinung des britischen Malers und Kritikers Julian Bell war das übrigens die „radikalste Neuerung durch einen einzigen Künstler, seit Giotto das Bild zum Fenster erklärte“.

 

In seinen ersten Berufsjahren experimentierte Kraus mit „der elementaren Ausdruckskraft archaisch vereinfachter Formen“ (Kritiker Gottfried Knapp) und konfrontierte dann um 1990 in der Serie „Dual“ archetypische Symbole aus Kunst- und Kulturgeschichte mit malerisch geradezu stigmatisierten Aktfiguren, um mit „metaphernartiger Formensprache möglicherweise verschüttete Bereiche im Unterbewusstsein des Betrachters anzutasten“ (Kraus). Der Markterfolg von Victor Kraus wurde durch diese anspruchsvolle Werkphase des Malers, den ja auch der notorische Feuilleton-Diskurs zur Frage, „ob man überhaupt noch malen darf, kann oder soll“ (Kraus) nicht unberührt gelassen hatte, eher gebremst als beflügelt. Aber dank der erwähnten Preise und Stipendien kam er darüber ohne Kompromisse hinweg.

 

Und dank eines früh installierten Prinzips kritischer Selbstvergewisserung, das mir imponiert, seit es mir 1983, bei der Arbeit am Katalog der „art“-Schau „Deutsche Landschaft – heute“ auffiel. Ich komme zurück auf den Kommentar „pflügen – zeichnen – schießen“, mit dem Kraus sein schließlich preisgekröntes Bild erläutert hatte. Die drei Schlagwörter geben Auskunft über dessen Enwicklungsprozess. Der vollzog sich in drei Stufen: Vom  erdhaft realistischen Sujet, das man pflügt, führt er zum autonom gezeichneten Kunstprodukt, für das keine herkömmlichen Grenzen mehr gelten und kulminiert in der Vision vom utopischen Gebrauch einer Waffe. Um die Bedeutung des Kommentars zu betonen und mögliche Missverständnisse auszuschließen, hat Kraus ihn zum Gedicht erweitert und damals im Anhang des „art“-Katalogs wiederholt:

 

Augen auf – Augen zu

Das Dickicht der Rätsel durchpflügen

Einen Keil in die Materie treiben

Zeichen geben – Spuren hinterlassen

den tropfenden Pinsel gegen versteinerte Oberflächen richten

und abdrücken.

 

Auch während einer Einzelschau seiner Gemälde, die 1984 etwa gleichzeitig mit der „art“-Schau in der Münchner Villa Stuck stattfand, praktizierte Kraus seine kritische Selbstreflexion und kam fast ohne Worte aus. Zum Auftakt installierte er diesmal einen Prolog mit über hundert Blättern aus einem zeichnerischen Tagebuch, das damals die Entstehung der Gemälde begleitet hatte. Und diese impulsiven, oft privaten und rabiaten Arbeiten auf Papier summierten sich zu einem kritischen Apparat – zu einem beispiellosen Rechenschaftsbericht, der einem wissbegierigen Publikum die Genesis der großen Leinwand-Bilder im Hauptraum erschloss und das bildnerische Denken des Malers transparent machte.

 

Das Motiv für diese auf Offenheit und erhofftem Feedback basierende Strategie liegt auf der Hand: Malen ist bekanntlich ein einsames, nachgerade solipsistisches Geschäft. Und Kraus, ein disziplinierter Tag-Arbeiter, der sich weder auf lebende Modelle noch auf Fotovorlagen oder Requisiten verlässt, duldet im Atelier außer Klassik oder Jazzmusik („Die geht in eine Tiefe, die ich auch bei den Bildern erreichen will“) keinerlei Ablenkung durch Radiogedudel, Zuschauer oder Ratgeber. Was am Abend „fertig“ ist, kommt am nächsten Morgen auf den Stapel. Bilder, mit denen „etwas noch nicht stimmt“ (Kraus), wandern auf eine freie Wand – und werden, wenn sie durch Korrektur nicht an Relevanz gewinnen, alsbald zügig übermalt. Als Handwerker mit Künstlerstatus weiß sich der Solist einem Ethos der inneren Notwendigkeit verpflichtet, das ihn vor Beliebigkeit bewahrt. Und so fixiert er für jeden neuen Werkblock selbstgewählte Prämissen, nach denen die Bilder funktionieren sollen – und lässt erst bei Ausstellungen die Öffentlichkeit an seinen Überlegungen teilnehmen. Nur einmal, beim Katalog der Leipziger Ausstellung „used papers“ (1995), drehte er den Spieß um und folgte dem Vorschlag seines Galeristen Michael Beck, ausgewählte Besitzer von Kraus-Bildern um kurze Erfahrungsberichte zu bitten. Dass die  durchweg positiv ausfielen, war kein Wunder. Doch Kraus las zwischen den Zeilen und war zufrieden: „Die meisten beschrieben Dinge, die mir so noch gar nicht bewusst waren.“

 

Denn natürlich zweifelt er auch bisweilen. Erklärt sich und Kollegen wie Georg Baselitz oder Sean Scully zu „Maler-Fossilien des 21. Jahrhunderts“ und fragt sich, „an welches Publikum ich mich mit meinen Arbeiten eigentlich richte“. Als Kraus mir diese Skepsis 2002 in einem Brief mitteilte, sorgte er sich um die Akzeptanz seiner aktuellen Arbeiten bei deutschen Rezipienten, denen er eine „geradezu panische Angst vor Kunst“ unterstellte, „die man als ‚schön’ bezeichnen könnte“. Doch zum Glück steckte er da schon mittendrin in der neuen Malperiode, die er mit sensiblen Aquarellen und druckreifer Lyrik vorbereitet hatte und die jetzt das Kernstück dieser Ausstellung bildet.

 

Zu sehen sind Bilder, die mit Schönheit zu tun haben, aber deshalb nicht zwangsläufig schön sind. Denn zur  Auseinandersetzung reizte den Maler nicht ein abstrakter, kaum darstellbarer philosophischer Schönheitsbegriff, sondern die Essenz voraufgegangener Bemühungen der Klassischen Moderne um die Herstellung „des schwebenden Zustandes imaginärer Ordnungen, die einer einzigen Herrlichkeit dienen: Der Schönheit“ (so Kraus in einem hier ohne Zeilenbruch zitierten Gedicht).

 

Mit anderen Worten: Kraus blickte auf Details von perfekten Interieurs, Stillleben und Landschaften französischer Meister wie Henri Matisse (1869-1954) oder Pierre Bonnard (1867-1947) und interpretierte Struktur, Eleganz und Opulenz dieser kunstgeschichtlich kanonisierten Vorbilder, ihre virtuose Harmonisierung von Kontrasten und ihren Einsatz üppiger Ornamente oder Gewächse – kurz: die ganze schönheitstrunkene Aura – mit dem Bewusstsein und den malerischen Mitteln von heute.

 

Eine Übernahme zeittypischer Versatzstücke war dabei erlaubt. Direkte Zitate blieben jedoch die Ausnahme oder wurden durch unterlegte Farbfelder als solche markiert. Der Einsatz von Drippings oder expressiven Schlieren aus Tachismus und Action Painting zur Vitalisierung des Bildgrunds dagegen wurde zur Regel. Es ging ja nie um Repliken, sondern um Operationen am offenen Herzen kostbarer Malerei. Jeder Anflug von Nostalgie, Naturalismus und Illusionismus wird deshalb so skrupulös vermieden wie später – auf kraftvollen Kraus-Gemälden, die sich mit der Ästhetik der fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts befassen – jegliche Koketterie mit dem fatalen Retro-Schick der Postmoderne. Da ist wirklich jede Blumenblüte und jedes lanzettliche Blatt als malerische Geste ad hoc neu erfunden, stammt keine bauchige Vase aus dem Katalog von Rosenthal und kein Tisch aus dem Fundus von Knoll International.

 

Zu erleben sind Bilder, deren Schönheit so aktuell ist wie die Geschichte der „frühen Räume“, an die sie erinnern. Auch wenn das Schöne in den Gemälden von Victor Kraus zugleich problematisiert wird.

 

Und was ist mit dem „Neuen Land“, dem zweiten Thema dieser Schau? Das wird, vermute ich, noch spannend werden, verweist aber zunächst auf eine ganz reale Immbolie. Die Rede ist von einem alten Stadl im Altmühltal, der Kraus neuerdings als Atelier dient. Dessen anderthalb Jahre währender Um- und Ausbau hat den dabei als Bauarbeiter beanspruchten Künstler und Familienvater monatelang aus dem Rhythmus gebracht, der da lautete: pro Tag ein Bild. Aber jetzt hat er es wieder – dieses Gefühl, am Morgen „völlig leer“ vor der Leinwand zu stehen und mit dem Schmutzwasser von gestern den ersten Pinselstrich darauf zu setzen. Denn das Rinnsal der Brühe enthält die besten ungemalten Bilder. Wenige Tage vor meinem Besuch zeigte Kraus mir erste Proben einer neuen großformatigen Bilderserie; inzwischen dürfte sie gewachsen und vorzeigbar geworden sein: Narrative Landschaften und Szenen, wie sie im Œuvre von Kraus bisher nicht vorgekommen sind.

 

Seinen Kommentar zum abermaligen Neustart vergesse ich so wenig wie seinen Namen: „Ich hätte an den ‚frühen Räumen’ endlos weitermalen können“, sagte Kraus, „aber ich bin nun mal ein Maler, der sich bei der Arbeit ungern langweilt.“

                                  

Alfred Nemeczek  

Literatur (Auswahl)

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